Unter dem Dach der Tanne …

Eine Tanne erzählt

Dieses Jahr hatten die Herbststürme beträchtliche Schäden angerichtet. Sie tobten über das Land, knickten starke Bäume um, deckten Dächer ab, und nahmen alles mit sich, was nicht niet- und nagelfest war.

Etwas ratlos stand der Bauer auf seinem Grund und Boden und überlegte, wie und wo er anfangen sollte, die vielen Schäden zu beheben.  Es würde wohl ziemlich lange dauern, bis die Reparaturen ausgeführt und alles wieder in Ordnung gebracht sein würde.

Mit diesen Gedanken im Kopf machte er sich an die Arbeit.

Allerdings kamen bald Kälte und Eis dazu, so dass er einige Tätigkeiten, die nicht unbedingt gleich erledigt werden mussten, auf das Frühjahr verschob.

In der alten Hütte am Waldrand fanden vorübergehend ein Ochse und ein Esel eine Bleibe, weil der große Stall im Bauernhof schon allzu viele Tiere beherbergen musste. Das Loch im Dach des Stadels hatte der Bauer gar nicht entdeckt.

Hinter dem Stall wuchs ein riesiger Tannenbaum, dessen Stamm sich kerzengerade in die Höhe streckte. Ihm hatte der Sturm nichts anhaben können. Weit breitete er seine dicken Äste aus. Hase und Reh, Eichhörnchen und Specht, lebten in seinem Umkreis. Allerdings auf die alte Hütte mit dem Loch im Dach, samt ihren haarigen Bewohnern, sah die Tanne ein bisschen hochmütig herunter.

Eines Abends, es war nahezu dunkel, kamen ein Mann und eine Frau des Weges. Sie wirkten sichtlich erschöpft. Als sie die Hütte erreichten, waren sie froh, einen Unterschlupf gefunden zu haben.  Die Frau setzte sich auf den Haufen Heu, der Ochse und Esel als Nahrung diente. Der Mann entzündete ein Licht.

Interessiert beobachtete die Tanne, durch das Loch im Dach, das Geschehen. Endlich war mal was los hier. Sie beugte sich ein wenig nach vorn, um besser sehen zu können.

Zwischenzeitlich hatte es angefangen zu schneien, und der  Schnee rieselte durch die Öffnung im Dach. Dem Esel gefiel das gar nicht; er schnaubte empört, und der Ochse schüttelte sich unwillig. Auch das Heu wurde feucht, auf welchem die Frau ausruhte.

Plötzlich war das Christkind geboren. Die Tanne sah ein Kindlein, das einen Strahlenkranz auf dem Köpfchen trug. Die Frau nahm das Kind, wickelte es in ein Tuch, und legte es in die Futterraufe, die neben dem Heuhaufen stand. Unaufhörlich fielen die weißen Flocken.

Die große Tanne neigte sich weiter vor, über das bemooste Hüttendach, um die Szene besser im Blick zu haben. Aber in Wirklichkeit wollte sie das Loch im Dach verdecken, damit das Kind, und alles Drum Herum, geschützt vor der Nässe war.

Sie begann zu knarren und zu ächzen, um sich immer heftiger zu biegen, bis ihre dicken Zweige das Loch vollständig bedeckten. Die stolze Tanne stand nun krumm und schief.

Inzwischen waren auch die Engel gekommen, sichtlich froh, dass das Schneien durch den Spalt im Dach ein Ende hatte. Die Mutter Maria streute neues Heu in die Futterkrippe, damit das Kindlein schön trocken lag.   Das alles sah die starke, stolze Tanne mit Staunen. Und genauso staunte sie über sich selbst. Denn kein Sturm hätte sie bewegen können, sich so weit vorzubeugen, dass die Gefahr bestand, ihr Stamm würde brechen. Sie knatterte und stöhnte, so sehr musste sie sich plagen. ‚Hoffentlich halte ich diese Anstrengung überhaupt aus’, dachte die Tanne. Dass hinter ihr Engel standen, und sie stützten, merkte sie nicht. Sie beugte sich noch weiter nach vorn, um keinen Wind durch das offene Loch im Dach wehen zu lassen.

In der Hütte war es kuschelig warm geworden. Auch das Kind fror nicht mehr, denn Ochse und Esel wärmten es mit ihrem Atem.

Draußen, in der Nähe, blitzten Lichter auf. Hirten, denen Engel die Botschaft vom Christkind verkündet hatten, kämpften sich mit ihren Laternen durch den Schnee. Sie fanden das Kind in der Hütte, und freuten sich sehr darüber.

Längst hatte es aufgehört zu schneien. Ein großer Stern mit einem langen Schweif erschien am Himmel. Er glänzte und strahlte, und verbreitete sein Licht über die ganze Gegend, und weit darüber hinaus. Er wies drei Königen, die von fern her kamen, den Weg zu dem alten Stall am Waldrand. Sie reisten mit großem Gefolge, so dass vor und in der kleinen Hütte der Platz knapp wurde. Reichlich beschenkten die Könige das Kind mit Gold, Weihrauch und Myrrhe. Und immer noch hielt die große, krumm gewordene Tanne Wacht über Hütte und Dach.

Einige Zeit später verließen Maria und Josef mit dem Kind die Hütte, weil sie nach Ägypten fliehen mussten. Darüber war die große Tanne sehr traurig. Trotz aller Schmerzen, Mühen und Plagen, weil sie so gebückt stehen musste, hatte ihr das Leben in der kleinen Hütte sehr gefallen. ‚So lange habe ich durchgehalten’, dachte sie, ‚nun werde ich wohl umstürzen, denn nie mehr werde ich in meine kerzengerade Haltung zurückfinden’.

Die Tanne reckte sich und streckte sich, um das Christkind noch mal zu sehen – plötzlich stand sie so gerade, wie all die vielen, vielen Jahre vorher. Und weil sie so groß und hoch und riesig war, konnte sie die Heilige Familie noch lange mit den Augen begleiten.

Das Christkind sah noch einmal zurück zur Tanne, und winkte ihr zu. Aber vielleicht hatte sie sich das ja auch nur eingebildet.

Rimsting, 24.12.2011