Romatische Begegnung im Schnee …

Winterzauber

Weihnachten und Neujahr waren vorüber und der Alltag kehrte wieder ein. Der Alltag und alle möglichen Probleme. Das war so nach den Feiertagen. An heilig Drei König fiel ihr die Decke auf den Kopf. Sie hielt es nicht mehr aus in ihrer Wohnung.

Draußen streckten die Bäume, vor Kälte starr, ihre Äste in die klare Winterluft. Vom blauen Himmel schien die Sonne und ließ den unberührten, weißen Schnee noch heller erscheinen.

Auf dem Waldparkplatz standen die PKW dicht an dicht, teilweise schief, zwischen Fichten gequetscht. Keine Lücke, keine Chance auf einen Parkplatz, und kein Wunder, dass ihr schon einige Autos entgegengekommen waren. Sie musste ein Stück zurückfahren und am Wegrand parken.

Sie zog ihre Bergschuhe an, befestigte die Schneeeisen an der Sohle, holte ihre Stöcke aus dem Kofferraum und stapfte los. So viel Betrieb schon am frühen Vormittag auf dem Weg zur Berghütte: Erwachsene und Kinder, ausgerüstet zum Wandern, Skifahren und Rodeln. Und wie immer Hunde natürlich, eine Menge Hunde, große und kleine, braune und schwarze.

Der Weg führte steil bergan. Unter dem festgetretenen Schnee lugte stellenweise das blanke Eis hervor. Sie war froh um ihre Spikes an den Schuhen. Manchmal kreuzten Wanderer ihren Weg. Sonst unterbrach nur das gedämpfte Klack-klack-klack ihrer Stöcke die Stille, oder der krächzende Ruf eines Eichelhähers. In den Waldstücken war es empfindlich kalt, und der Wind blies kräftig. Sie zog den Kragen ihres Anoraks hoch. Ihren Schal hatte sie im Auto vergessen.

Den Weg begleitete ein Stück weit ein Wildbach. An zahlreichen Stellen von Eis überzogen, klang zu dieser Jahreszeit sein Rauschen dunkler als im Sommer, wenn das Wasser große und kleine Felsblöcke locker umspielte. Nun hatte er sein Winterkleid angelegt. Das Wasser drang auch jetzt mit Macht zu Tal, doch es stieß sich an eisigen Hindernissen.   Kleine Eisbrücken führten von einem Ufer zum anderen.

Dort, wo die Sonne die Fichten am Wegrand erreichte, rieselte feiner Schnee in kleinen Wolken herab und stob ihr in’s Gesicht. An freien, sonnigen Plätzen glänzten unzählige Schneekristalle funkelnd und bunt auf der unberührten, weiß überzogenen Landschaft. Sie blitzten auf und verschwanden wieder, während andere aufleuchteten und ebenfalls verlöschten. Als Pendant, dachte sie, die Sterne am dunklen Himmel. Doch die Sterne verlöschten nicht, sie ließen sich Zeit damit, astronomisch viel Zeit. Nur die Sternschnuppen hatten es eilig, nachts, am Horizont.

Nach dem letzten Waldstück trat sie auf den freien Platz vor der Berghütte. Automatisch hielt sie sich die Hand vor die Augen, so sehr blendete die Sonne. Kleine Kinder, in dicke Anzüge vermummt, tobten mit lautem Geschrei im Schnee herum. Ein Junge heulte, weil er seine Mütze verloren hatte.

Aufgereiht wie kleine Soldaten stand eine größere Anzahl Schlitten vor einer Schneewand. An der Hütte lehnten Skier und sogar drei Mountainbikes. Ein paar Unentwegte können es auch im Winter nicht lassen. Die Sonne stand direkt über dem kegelförmigen, schneebedeckten Berggipfel unweit der Hütte. Seine Form erinnerte an eine ägyptische Pyramide.

Sie entfernte die Spikes von ihren Schuhen und ging auf die Hüttentüre zu. Plötzlich lag sie auf dem Rücken auf dem eisigen Boden. Sie schloss die Augen vor der blendenden Sonne und  dem Schmerz, der sie durchzuckte. Sie blieb einfach liegen.

Eine Stimme erklang über ihr: „Hast du dir weh getan? Kann ich dir helfen?“ „Weiß nicht, ich bin ausgerutscht“, antwortete sie zaghaft, und blinzelte in ein männliches Gesicht, „muss erst sehen.“ Sie versuchte, sich hochzurappeln. Er half ihr auf die Beine. „Geht’s, ja“?, fragte er, und hielt sie fest. „Ich denke schon“, antwortete sie etwas benommen. „Du bist ganz blass um die Nase“, bemerkte er, „komm, ich spendiere dir einen Schnaps.“ Sie wollte keinen Schnaps, ihr war übel.

Er führte sie am Arm in die Hütte und sie fanden an einem kleinen Tisch neben dem Fenster Platz. Sie lehnte ihren Rücken an die Holzbank. Der Rücken schmerzte und ihr war kalt. Auf dem blankgescheuerten Holztisch stand der klare Obstler, ein Glas vor ihm, ein Glas vor ihr. „Prost“, meinte er, und lächelte ihr zu. Sie zögerte. „Na, komm schon, er wird dir gut tun“, ermutigte er sie, und hielt ihr das Glas an den Mund. Seine Hand war schmal und schlank. Feine, helle Härchen überzogen den Handrücken und liefen weiter über das Handgelenk, als sich der Ärmel seines Pullovers zurückschob.

Der Alkohol schmeckte grässlich. Er brannte zuerst in ihrer Kehle, dann im Magen.

„Du weinst ja“, sagte er, als er ihr prüfend ins Gesicht blickte. „Nein, nein“, antwortete sie, „das kommt vom kalten Wind und der Sonne.“ „Hier drinnen weht kein Wind“, bemerkte er.“ „Dann kommt es vom Rauch in der Hütte“, sagte sie, „ich habe empfindliche Augen.“ Er lächelte wieder.

Die Sonne schien durch das kleine Hüttenfenster auf sein  rotblondes Haar. Ein Sonnenstrahl streifte seine Nase, als er sich in ihre Richtung beugte. Sie fror nicht mehr. Im Kachelofen brannte ein gemütliches Feuer, und der Alkohol hatte sie auch innerlich erwärmt. Ihre Hand lag auf dem Tisch. Sie fühlte die Wärme seiner Hand, als er sie auf die ihre legte. Sie mochte sein Lächeln. Kleine Fältchen umspielten seine Augen, wenn er lächelte. Seine Augen hatten die Farbe von hellem Grün. Wie junge Birkenblätter im Frühling, dachte sie.

Hinter den schneebedeckten Gipfeln war die Sonne verschwunden. Im Raum wurde es dunkler. „Wir müssen los“, sagte er, „du wirst nicht schnell gehen können, und um diese Jahreszeit kommt bald die Dämmerung.“ Er half ihr, die Schneeeisen an den Schuhen zu befestigen.

Auf dem Rückweg ins Tal schmerzte sie jeder Schritt. Sie gingen langsam und vorsichtig. Ihre Hand lag in der seinen. Sie spürte die Wärme seiner Handflächen bis in die Fingerspitzen. Diese Wärme möchte ich festhalten, dachte sie. Auch die andere Hand wärmen, die kalte, die den Bergstock umklammerte. Immer so weitergehen, mit den Schmerzen im Rücken, in die Dämmerung hinein, in die Nacht.

Manchmal sausten Rodler, Kinder zwischen ihre Beine geklemmt, gefährlich nahe an ihnen vorbei, und gewagt um steile Wegkurven. Die Hunde rannten hinterher.

In einem kleinen, gemauerten Stall hatten sich Schafe auf dicke Strohmatten zurückgezogen. Ihr langes, warmes, wuscheliges Fell schützte sie vor der Kälte.

Als sie den Parkplatz erreicht hatten, begleitete er sie zu ihrem Auto. Sie bückte sich, um die Bergschuhe aufzubinden. Dabei entfuhr ihr ein kleiner Schmerzensschrei. „Lass dir helfen“, sagte er. Sie wollte es nicht. Doch er bemerkte nur: „Sei nicht kindisch“, zog ihr die Bergschuhe aus, um sie mit den Winterstiefeln zu tauschen.

„Kannst du denn fahren mit den Schmerzen oder soll ich dich heimbringen“, fragte er. „Nein, nein, das geht schon“, antwortete sie und klemmte sich hinter das Steuerrad. Er beugte sich zu ihr hinunter und küsste sie flüchtig auf die Stirn, an der Stelle, die die Jack-Wolfskin-Mütze, auf die sie so stolz war, nicht bedeckte. Es war nur ein Hauch, und ein kleiner Schauer, der ihren Körper erfasste, und vor ihren Augen ein Bild entstehen ließ: junge Birkenblätter im Frühling, die der Wind bewegte. Ein Grün von jungen Birkenblättern – wie die Farbe seiner Augen.

„Du fährst voraus, und wenn die Schmerzen zu groß sind, bleib einfach stehen, dann fahre ich dich heim“, sagte er. Und nach einer Weile, „also mach’s gut …“ „Du auch“, antwortete sie, „und danke – für alles.“

Als er in die Autobahneinfahrt abbog, winkten sie sich noch einmal zu. Sie fuhr die Landstraße weiter. Birken säumten den Straßenrand, kahl und starr, mit Raureif überzogen.

Der Schmerz im Rücken machte sich wieder bemerkbar. Und ein kleiner Stich in der Herzgegend. Wehmütig gestand sie sich ein, dass es ein Fehler gewesen war: sie hätte „Ja“ sagen sollen, als er ihr anbot, sie nach Hause zu bringen. Nicht nur wegen der Schmerzen.

Sie spürte noch lange den Druck seiner Hände.

Rimsting, 06.01.2001