Ein Bett für eine Nacht …

Heilige Nacht

Die Nacht war hell und sternenklar, und sehr kalt. Das Thermometer fiel auf minus 15 Grad.

Bertram ging durch die menschenleeren Straßen. Er fror. Warum er immer fror? Er wusste es nicht, wie er so vieles nicht mehr wusste, was früher klar vor seinen Augen stand.

Ab und zu warf er einen Blick in helle Fenster, deren Rollos nicht geschlossen waren. Dort feierten sie Weihnachten. Er sehnte sich nicht danach. Weihnachten, das war lange her. Und Gott? Das war auch lange her. Eine Karikatur, ein Mann mit weißem Bart, der aus den Wolken lugte. Aber warm war es dort hinter den hellen Fenstern. Licht und Wärme waren das Einzige, was er sich noch wünschte. Und ein Bett, ein richtiges Bett. Es müsste kein Himmelbett sein. Schon etwas Wärme würde seinem ausgezehrten Körper gut tun.

Im Sommer konnte man es aushalten, nachts, unter der Brücke am Fluss. Gar nicht so schlecht dann das Leben. Eine Matratze, eine Decke. Ein wenig erbetteltes Geld, um Wein und Zigaretten zu kaufen. Zu Essen gab es immer irgendwo.

Nur die Kälte im Winter, die setzte ihm zu. Sicher, es gab Unterkünfte für eine Nacht. Doch er hasste es, dort hinzugehen. Diese verkommenen Gestalten mit der zerrissenen Kleidung und vom Suff aufgedunsenen Gesichtern. Und wie sie stanken! Ob er genauso war? Schon lange hatte Bertram in keinen Spiegel mehr gesehen.

Er steckte seine Hände tiefer in die Manteltaschen. Die linke Tasche hatte ein Loch, er konnte die ausgerissenen Fadenstränge ertasten. Ein Griff nach der Innentasche. Dort steckte noch immer sein Pass. Bertram zog das Papier mit klammen Fingern heraus und sah sich das Foto an. Ja, damals hatte er anders ausgesehen – gut geschnittenes Gesicht, braune Haare, ein leichtes Lächeln auf den Lippen. Und die Narbe an der Wange, auf die er immer so stolz war. Damals …

Damals hatte er ein Haus, eine Frau und zwei Kinder. Und Arbeit. Aber dann hatte er seinen Arbeitsplatz verloren, und er fand keinen neuen mehr. Das war die Zeit, als er anfing zu trinken. Und dann das unweigerlich fast klassische Geschehen: kaputte Ehe, Hausverkauf, Scheidung. Seine Frau zog mit den Kindern in eine Sozialwohnung. Ihn wollte sie nicht dabei haben.

Seit dem lebte er in dieser großen Stadt, in der ihn niemand kannte. Heute, in seinem jetzigen Zustand, würde er sowieso nicht mehr zu erkennen sein. Ein Straßenpenner, das war aus ihm geworden. Wie lange schon? Zwei Jahre? Fünf? Zehn? Bertram wollte nicht nachrechnen. Und das Schämen hatte er sich schon lange abgewöhnt.

Bertram betrat den Hof eines Hauses, um ein wenig auszuruhen, eine Zigarette zu rauchen und einen Schluck aus der Flasche zu nehmen. Die Menschen waren spendabel in der Weihnachtszeit. Sein linkes Bein schmerzte ihn immer mehr. Er hätte einen Arzt aufsuchen können. Das stand ihm zu. Doch es bereitete ihm Unbehagen, in seinem ungepflegten Zustand zu einem Arzt zu gehen. Lieber ertrug er die Schmerzen. Und die Kälte.

„He, was machst du da“, rief eine barsche Frauenstimme. Die Stimme kam ihm bekannt vor. Er ging auf einen kleinen, offenen Vorraum zu und sah auf die Frau hinunter, die dort unter einem Stapel Decken lag. Bertram kannte die Frau. Früher waren sie manchmal eine Strecke zusammen gegangen. Sie war ziemlich gewöhnlich in ihrer Sprache, doch sie hatte sich eine bestimmte Art von Humor erhalten, die ihm gefiel. Früher musste sie einmal hübsch gewesen sein. Sie trug ihr rotblondes, langes Haar immer noch offen. Ihre Augen hatten das Blau von Glockenblumen und standen in krassem Gegensatz zu dem harten Zug, der sich um ihre Mundwinkel eingegraben hatte. Sie erzählte ihm einmal, sie hätte ihr Kind zur Adoption freigegeben. Sie sagte das so leichthin, als würde ein Windhauch ein Blütenblatt verwehen. Doch Bertram konnte sie nichts vormachen. Aber dann hatte es Streit gegeben wegen zwei Zigaretten, die sie ihm aus der Manteltasche klaute. Es waren seine letzten gewesen. Den Namen der Frau kannte er nicht.

„Was starrst du mich so an, habe ich Aussatz“, fragte die Frau grob. Bertram antwortete nicht. „Lass mich in Ruhe, verpiss dich“, sagte die Frau. Bertram ging schweigend davon.

Als er schon fast außer Hörweite war, rief ihm die Frau nach: „Warte!“ Bertram blieb stehen. „Trägst du mir das immer noch nach mit den Zigaretten“? Er ging zu ihr zurück und sah wieder auf sie hinunter. „Warum fragst du mich?“ Als sie nicht antwortete, sagte er: „Nein, das ist für mich erledigt“. „Das ist gut“, sagte die Frau. „Es hat mir hinterher leid getan.“

Bertram beugte sich zu der Frau hinunter, so weit es sein schmerzendes Bein zuließ. „Mach dir deshalb keine Sorgen,“ meinte er. „Hast du jetzt Zigaretten?“ „Nein“, antwortete die Frau.  „Aber ich“, sagte Bertram und brachte eine Schachtel Camel zum Vorschein. Er zog seine zerrissenen Handschuhe aus.

Die Frau hatte zwischenzeitlich die Decke zurückgeschlagen und sich aufgesetzt. Angenehme Wärme schlug Bertram entgegen. Er ließ sich neben ihr auf der Matratze nieder. Mit klammen Fingern hielt er die Camel. Sie rauchten schweigend. Rotglühende Lichtpünktchen tauchten auf, wenn sie an der Zigarette zogen.

„Also, dann … „, sagte Bertram und stand auf. Die Frau hielt ihn am Mantel zurück. „Warte“, sagte sie noch einmal zu ihm. Während er wieder auf sie hinuntersah, sprach sie weiter: „Die Matratze ist breit und das Federbett groß, wir haben beide Platz.“

Unter der Decke war es weich und warm. Bertram spürte den Körper der Frau. Auch er war  weich und warm. Bertram hatte ein Bett gefunden. Für eine Nacht. In der heiligen Nacht.  Für eine Nacht war alles gut.