Not macht erfinderisch …

Als unser Sohn am Nikolausabend 50 Pfennige verlor …

Damals lebten wir in München und unser Sohn Stefan war fünf Jahre alt. Der Herbst brachte kaltes, trübes Wetter. Dicke Nebelschwaden krochen durch die Straßen; die Autos mit ihren Scheinwerfern konnten sie am Abend kaum durchdringen. Auch tagsüber wollte es gar nicht richtig hell werden.

Auf dem Christkindlmarkt am Weissenburger Platz allerdings, den wir am ersten Adventsonntag mit unserem Sohn besuchten, sah es anders aus. Hier hatte ein erster Christbaum seine elektrischen Kerzen angesteckt, und die kleinen Verkaufsbuden erstrahlten in hellem Licht. Was gab es da alles zu sehen an wunderbaren Dingen: Spielzeug, Naschwerk und natürlich Weihnachtschmuck – Bastelmaterial, bunte Christbaumkugeln, goldene Girlanden, große und kleine Engel, Adventhäuser, bemalte Krippenfiguren, Kerzen verschiedener Formen und Größen, und Lebkuchen formierten sich zu kleinen Türmen.

In einer Verkaufsbude mit Spielzeug, ganz außen links, stand eine bemalte Holzfigur des heiligen Nikolaus. Er trug Bischofsmütze und Bischofsstab, und in der Hand hielt er ein goldenes Buch. Wir machten Stefan darauf aufmerksam, war doch der 5. Dezember nicht mehr weit. An diesem Tag besucht der Heilige die Kinder und liest aus seinem goldenen Buch vor, in welchem alle guten und bösen Taten verzeichnet sind. Begleitet wird er vom Krampus, einem schwarzen Gesellen mit Hörnern, der schon einmal einen besonders bösen Buben in seinen Sack, den er bei sich trägt, steckt. Unser Sohn schien vom Anblick des heiligen Nikolaus nicht begeistert zu sein, denn er zog uns gleich weiter.

Stefan blieb an einem Stand mit Christbaumkugeln und Glocken stehen. Er hatte ein kleines, silbernes Glöckchen entdeckt, das ihm sehr zu gefallen schien. Stefan durfte es in die Hand nehmen, und ganz zart erklang ein feiner Glockenton. „Darf ich das haben, bitte?“, fragte er uns. Eigentlich durfte er es haben, doch wir sagten zu ihm, dass wir seinen Wunsch an den heiligen Nikolaus weitergeben würden. Von dieser Idee schien unser Sohn nicht begeistert zu sein. Er wollte eigentlich lieber Zuckerwatte, gab er uns zu verstehen. Anschließend machten wir uns auf den Heimweg.

Zu Hause angekommen erkundigte sich Stefan, ob der Nikolaus denn alles wissen würde. „Ja“, antworteten wir wahrheitsgetreu, „alles. Er schickt seine Engel aus, und die schauen in jedes Fenster, ob die Kinder auch brav sind.“ „Auch im sechsten Stock?“, forschte Stefan weiter. „Auch im sechsten Stock.“ „Durch die Vorhänge?“, war seine nächste Frage. „Durch die Vorhänge? Hmmm. Aber natürlich, es sind doch Engel!“

Die nächsten Tage verhielt sich Stefan auffallend manierlich. Er putzte sich Nase und Zähne, räumte seine Spielsachen auf und benahm sich bei Tisch tadellos – wohlgemerkt, alles ohne Aufforderung. Das kam uns irgendwie spanisch vor. Aber wir wollten seine Goodwill-Tour nicht unterbrechen.

„Vielleicht kommt er gar nicht, der Nikolaus“, erwähnte unser Sohn in diesen Tagen ganz beiläufig. Oder: „Kann der Nikolaus auch krank werden, weil es jetzt so kalt ist?“ Wir nahmen das nicht an, und unser Sohn benahm sich weiterhin vorbildlich. Er gab zwischendurch der Hoffnung Ausdruck, dass der Nikolaus vielleicht unsere Wohnung nicht finden würde.

Die Tage vergingen, der 5. Dezember war gekommen, und am Abend klingelte es an unserer Wohnungstüre. Wir öffneten und ins Wohnzimmer trat der stattliche Heilige mit langem Mantel, Bischofsstab und Mitra (Bischofsmütze). Sein langer, weißer Bart war etwas aus der Form geraten, wahrscheinlich hatte er in der Kälte daran gezupft. In der Hand hielt er das goldene Buch. Sein Begleiter, der schwarze Krampus mit den Hörnern, musste an der Türe stehen bleiben.

Suchend sah sich der heilige Nikolaus nach einem Kind um. Aber es war keines zu sehen. Leer das Wohnzimmer, unser Sohn war verschwunden. Schließlich entdeckten wir ihn unter dem Tisch, wohin er sich verkrochen hatte.

„Ja, willst Du mir nicht Grüß Gott sagen?“, fragte der Nikolaus unter den Tisch hinein. Keine Antwort. Stefan kroch dort unten herum und schien nach etwas Ausschau zu halten. Der heilige Nikolaus, ein geduldiger Mann, fragte weiter: „Was suchst Du denn da unten?“ Unser Sohn ließ sich zu einer Antwort bewegen: „Ich habe 50 Pfennige verloren und die muss ich jetzt suchen.“ „Das kannst Du doch später tun“, entgegnete der Nikolaus. „Nein“, erwiderte unser Sohn, „später finde ich sie nicht mehr.“ Der Nikolaus gab nicht auf: „Aber Du hast doch sicher ein Sprüchlein gelernt, das Du mir aufsagen möchtest.“ „Nein“, gab unser Sohn kurz und bündig zur Antwort. Das war natürlich geschwindelt. In dieser komplizierten Szene, wo der Hauptakteur unter dem Tisch herumkroch, war guter Rat teuer. Wir wollten unseren Sohn ja nicht mit Gewalt auf die Füße stellen. Die ungewöhnliche Situation entbehrte nicht einer gewissen Komik.

Der heilige Nikolaus wusste Rat. „Komm doch mal her!“, befahl er dem Krampus. Die beiden hoben den Tisch hoch und stellten ihn an einen anderen Platz im Wohnzimmer. Darauf war Stefan nicht gefasst – wir übrigens auch nicht. Da stand er nun, unser Sohn, und man sah ihm an wie er überlegte, ob es nicht doch noch irgendeinen Ausweg gäbe, um zu verschwinden. Leichte Blässe überzog sein Gesicht, während seine Wangen sonst immer rosig angehaucht waren. Er stand jetzt zwar auf seinen zwei Beinen, aber die Hand wollte er dem Nikolaus trotzdem nicht geben.

Dieser las inzwischen aus seinem goldenen Buch vor. Ein paar kleine Verfehlungen, ein wenig Lob. Unserem Sohn war sichtlich unwohl zumute. Er starrte schweigend auf den Fußboden und kratzte mit der Schuhspitze auf dem Teppich herum. Wir konnten uns das nicht erklären, war er doch im letzten Jahr am 5. Dezember so fröhlich gewesen.

Nun dachte der heilige Mann offensichtlich, bei diesem verstockten Kind sei Hopfen und Malz verloren. Er ließ sich vom Krampus, der dabei mit seiner Kette rasselte, ein Säckchen geben, das er unserem Sohn überreichte. Stefan nahm es höchst erstaunt in Empfang, und brachte dabei zumindest ein spärliches „danke“ heraus. Der Nikolaus verabschiedete sich,

unser Sohn gab ihm keine Hand, der Krampus rasselte noch einmal mit seiner Kette, und die beiden machten sich auf den Weg zu anderen, freundlicheren Kindern.

Anschließend fragten wir unseren Sohn, warum er denn zum heiligen Nikolaus so unhöflich gewesen sei. „Ja, wenn der doch immer alles weiß“, murmelte er bedrückt. Doch plötzlich leuchteten seine Augen auf und alle Niedergeschlagenheit schien verschwunden. Erregt schwang er das silberne Glöckchen vom Christkindlmarkt, das natürlich in seinem Säckchen gewesen war, und sagte lautstark mit dem Brustton der Überzeugung: „Aber alles weiß er halt doch nicht, der Nikolaus.“ Der zarte Glockenton ging in seiner Rede unter.

Was er nun doch nicht gewusst haben sollte, der heilige Nikolaus, würden wir wohl nie erfahren.

Tage später bezog ich das Bett meines Sohnes frisch und hob dabei auch die Matratze etwas hoch. Sie war außen an einer Stelle feucht. Komisch, dachte ich, und drehte sie ganz um. Da lag das von meinem Mann wie ein Kleinod gehütete Briefmarkenalbum, welches die wertvollen Nachkriegsbriefmarken enthielt, in feuchtem Zustand auf dem Lattenrost. Der Lederdeckel hatte sich voll Wasser gesogen, und die Briefmarken selbst waren teilweise nass geworden und zeigten braune Flecken an den zackigen Rändern. Ausgerechnet dieses Album! Unser Sohn hatte es wohl, trotz oder gerade wegen strengsten Verbotes, aus dem Schrank genommen und heimlich ins Bad getragen. Dabei musste es passiert sein. Wie würde mein Mann reagieren bei der Ansicht seines teilweise zerstörten Heiligtums?

Seine Reaktion zeigte einen autoritären Vater und passionierten Philatelisten – er rastete aus. „Ich könnte unseren Sohn …“ und „Das waren für mich nicht mehr zu ersetzende Wertstücke!“ Eine Fernsehwerbung aus den sechziger Jahren zeigte damals ein Männlein, das an die Zimmerdecke schwebte, und dazu erklangen die Worte: „Warum denn an die Decke gehen – greife lieber zur HB.“ Solcherlei ist ja zwischenzeitlich längst verboten.

Letztendlich übergingen wir die Sache stillschweigend und retteten von den kostbaren Briefmarken, was eben noch zu retten war.

Die Gläubigkeit unseres Sohnes an die „himmlische Allwissenheit“ aber schien schwer gelitten zu haben. Das Image des heiligen Nikolaus mit samt seinen Engeln war erschüttert; es bröckelte ab wie eine schlecht gemauerte Wand. Wahrscheinlich hat er diese Erkenntnisse auch auf das Christkind übertragen, denn fortan benahm sich Stefan wieder normal, das heißt er litt an Hörschwäche, kein Nase- und Zähneputzen ohne Aufforderung, und auch das tadellose Benehmen bei Tisch schien nur eine kurze Episode gewesen zu sein.

Übrigens: die fünfzig Pfennige, die unser Sohn beim Nikolausbesuch angeblich unter dem Tisch verloren hatte, haben wir nie gefunden.